
By Jill Purce
Der Zeit Punkt, Jan 1992
Die Welt braucht Stimmen, Harmonie und Resonanz
Jill Purce, Autorin von "The Mystic Spiral: Journey of the Soul" gibt Workshops und Seminare in aller Welt über die heilenden Kräfte der Stimme, tibetanisches Obertonsingen und meditatives Singen. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Biologen Rupert Sheldrake und ihren zwei Söhnen in London. Der vorliegende Artikel erschien unter dem Titel "Being in Tune" in der englischen Zweimonatszeitschrift "Resurgence"
Es gab keine Zeit in der Geschichte, in der die Menschen nicht sangen. In den 30er Jahren betrachtete der englische Schriftsteller G.K. Chesterton eine Reihe mittelalterlicher Skulpturen von Bauern auf dem Felde und in Alltagszenen. Er wunderte sich, warum die Menschen in jeder Darstellung ihren Mund geöffnet hatten. Dann realisierte er plötzlich, dass sie alle sangen. Heute haben wir unseren Mund kaum noch offen. Wir singen nicht mehr. Wir singen nicht nur nicht mehr, wir merken nicht einmal, dass wir nicht mehr singen. Wir haben das Singen verloren und wir haben sogar vergessen, dass wir es verloren haben. In gewisser Hinsicht leiden wir an doppeltem Gedächtnisschwund.
In allen traditionellen Gesellschaften ist der Gesang der wichtigste Weg, mit uns selber in Harmonie zu bleiben und mit dem Göttlichen in Verbindung zu treten. In der christlichen Welt ging bis vor fünfzig, sechzig Jahren jedermann zur Kirche. Dort sangen die Leute nicht in erster Linie, weil sie es so gut konnten, sondern um in Harmonie zu treten. Durch gemeinsames Singen und Intonieren stimmten sich die Leute aufeinander ein. Unser Körper ist ein Vibrationssystem mit verschiedenen Arten von Resonanz. Wenn wir nicht mehr singen, wenn wir unsere Stimme nicht mehr gebrauchen, hören wir auf, richtig gestimmt zu sein.
>In der Kirche sind die Leute von ihren Familien umgeben. Damit würden also nicht nur Körper und Geist eingestimmt, sondern auch die einzelnen Menschen mit ihren Familien. Und die Familie wäre mit sich selber eingestimmt. Und weil die Familie von den Dorfbewohnern umgeben ist, würde sich das ganze Dorf aufeinander einstimmen. Die ganze Christenheit, so weit sie reicht, käme in Resonanz mit sich selber, in dem sie sich auf ähnliche Art und zu ähnlichen Zeiten "stimmt". Und dieses grosse resonierende Netz würde sich einstimmen auf das Übergeordnete, Göttliche.
Dadurch, dass alle grossen Kirchen und Kathedralen an heiligen Orten gebaut wurden, stimmt sich eine Gemeinde nicht nur auf sich selber, sondern auch auf den Ort ein. Wenn Menschen zusammen sangen, dann taten sie das nicht irgendwo, sondern an einem heiligen Ort, wo das Einstimmen leichter ging. Ähnlich sang man die geistlichen Lieder nicht irgendwann, sondern zu heiligen Zeiten, den kurzen Momenten, wo alles erreichbar ist, wo sich die ganze Zeit in der Gegenwart zusammenfindet. Das waren die alten Feste, die später in den kirchlichen Kalender übernommen wurden. Das individuelle Leben stand damit nicht nur in Verbindung mit den persönlichen Bedürfnissen und Anliegen, sondern auch mit denen der Familie, der Dorfgemeinschaft, mit Raum und Zeit und damit einem viel grösseren Ganzen. Mit stimmlichen Mitteln wird jedes Ding und jedes Wesen in ein grösseres Verstehen eingebettet.
Diese Art heiligen Singens ist heute die Domäne von ein paar Profis, einem vernachlässigbar kleinen Teil unserer Gesellschaft. Die Gesellschaft als Ganzes ist verstummt. Traditionelle Gesellschaften haben immer ein wechselseitiges Verhältnis mit den Kräften unterstützt, die grösser sind als wir und die unser Schicksal zu bestimmen scheinen. Vom 16. Jahrhundert an verbreitete sich dann die Ansicht, dass Maschinen einen höheren Grad an Voraussagbarkeit ermöglichten und wir damit unsere Lebensumstände besser kontrollieren konnten als mit dem Anrufen von Gott. Mit wachsendem Gefühl für Kontrolle wurden wir zunehmend selbstsicher - unser spirituelles Leben wurde an den Rand gedrängt.
Die mechanisierte Welt ist eine sehr laute Welt. Wir haben den Schwerpunkt verschoben von der natürlichen Welt voller Klänge zu einer lärmigen Welt, in der wir selbst stumm sind. Weil es aber immer noch richtig erscheint, dass die Menschen ihre Stimme gebrauchen sollen, haben wir ein paar Profis damit beauftragt, die Klänge für uns zu erzeugen. Sie produzieren die Töne, während wir bezahlen, uns zurücklehnen und zuhören. Noch immer haben wir aber das unbewusste Bedürfnis, die Klänge in uns zu haben. Also stecken wir die Töne der Profis in eine Maschine und die stülpen wir uns unter Ausschluss von Geräuschen von Menschen und Umwelt über den Kopf, so nah ans Gehirn wie nur möglich. Damit aber - denn Kopfhörer schädigen das Gehör - werden wir stumm und taub in einer lärmigen Welt.
Im Mittelalter sprach man von der stimmlichen Natur der Seele. Wenn wir unsere Stimme verlieren, verlieren wir unsere Seele. Wenn wir nicht singen, sind wir körperlich, gefühlsmässig, geistig und sozial nicht in Stimmung, in Schwingung.
Ich sehe die Zukunft als eine Zeit, wo wir einander wieder in Schwingung bringen. Anstatt wie gewohnt mit geschlossenen Mündern umherzugehen, werden wir sie wieder öffnen und miteinander singen. Das Gleichgewicht der Töne wird sich ändern. Die mechanisierte Welt wird ihren Lärmpegel heruntersetzen und unser Lied wird wieder in der Atmosphäre schweben und unser Leben emotional und spirituell wieder aufrichten.
Diese "Wieder-Einstimmung", die, so denke ich, durch uns alle kommen kann, die wir unsere Stimme wieder entdecken und sie gegenseitig ausdrücken, sollte einhergehen mit einer Sakralisierung der Kunst im allgemeinen. Nicht nur die Musik muss wieder belebt, alle unsere Künste sollten wieder heilend, heilig werden. Jedes Gebäude hat eine solche Funktion, indem seine Proportionen auf uns wirken und unserem Wesen einen Ort zur Entfaltung und unseren Stimmen Raum zur Resonanz geben. Die Kunst sollte sich so entwickeln, dass die einzelnen Werke nicht mehr bloss Ausdruck der Individualiät und der Verfassung des Künstlers oder der Künstlerin sind, sondern eine Form göttlicher Teilnahme. Besonders beispielhaft hat sich der Tanz im Laufe der Zeit verändert: Ursprünglich tanzten wir als ganze Gemeinschaft im Kreis, dann tanzten wir in kleineren Gruppen zu dritt oder zu viert, dann walzerten wir paarweise und jetzt tanzen wir allein.
Die ganze Idee der Resonanz reicht übrigens über die Musik, die Kunst und die Mythologie hinaus ins Herz der Wissenschaft. In jedem Fachgebiet, sei es nun Physik, Chemie, Mathematik, Biologie, oder Gehirnphysiologie, bieten Resonanzfelder einen Weg zu echtem Verständnis der Welt. Wir erfahren heute, dass die Art von Kontrolle, die wir in einem verzweifelten Versuch, uns sicher zu fühlen, durch Mechanisierung und Technisierung unserer Welt erlangen wollten, in Tat und Wahrheit das Gegenteil bewirkt. Je mehr wir versuchten, die Welt zu kontrollieren, desto gefährlicher wurde das Leben auf ihr. Wir haben das Gleichgewicht vollständig zerstört. Die Kräfte, die wir zu kontrollieren versuchten, bedrohen jetzt unser nacktes Überleben. Wir können die Welt nicht durch Kontrolle kontrollieren. Der einzige Weg, sicher und nachhaltig auf dieser Welt zu leben, ist in Gegenseitigkeit und Gleichgewicht.
Wie aber schaffen wir ein Gefühl für das Universum, in dem Resonanz ein so wichtiger Faktor ist? Einer der besten Wege ist, mit ihm in Resonanz zu treten, indem wir unser Leben wieder "ein-stimmen". Denn unser Herz und unsere Stimme sind eins. Wenn wir unsere Stimme wieder öffnen, öffnet sich auch unser Herz.
Unter Resonanz (lat. Widerhall) versteht man das starke Mitschwingen von Systemen, erregt durch relativ schwache äussere Kräfte. Voraussetzung für die Resonanz, die Übertragung und Verstärkung von Energie zwischen zwei Systemen ist eine gleiche oder nahezu gleiche Eigenfrequenz. Resonanz lässt sich nicht nur in der Musik, sondern allgemein inder Physik bis auf die Ebene der Elementarteilchen beobachten.
Das Phänomen der Resonanz beschränkt sich freilich nicht nur auf das Gebiet der Physik. Auch im zwischenmenschlichen Bereich und auf spiritueller Ebene spricht man von Resonanz, allerdings mit anderen Worten. "Man hat die gleiche Wellenlänge", "die Schwingung ist gut", jemand ist "beschwingt", hat "gutes Echo", erhalten oder "stinmmt mit anderen überein" sind einige unter vielen Beispielen dafür. In anderen Sprachen zeigen sich weitere Funktionen der Resonanz: chanter (franz. Singen) und enchanter (entzücken). Das englische "sound" beispielsweise bedeutet als Substantiv Klang und als Adjektiv gesund.